Die Jules Verne von Berlin
Eine Urlaubsgeschichte
Wo hört eine Reise auf. Ist es schon der Gedanke an das Wiederheimkommen, auf dem Weg zum Reiseziel, der das Ende einleitet? Wie die Geburt eines Menschen zugleich sein Vergehen besiegelt? Die Neugier wuchs, was sie mit einem machen wird, wie sie einen verändern kann… diese ganz neue Erfahrung. Eine Reise in der Reise sozusagen. Eine Geburt mitten in der Lebensmitte.
Seit Tagen lagen diverse Kleidungsstücke und Schuhwerk, Bücher, Cremes, Tuben, Beutelchen… verteilt in meiner Wohnung, die ich betrachtete, begutachtete, bewertete, ob sie essenziell für meine Reise nach Frankreich wären. Sechs ganze Tage! Was für die einen ein läppischer Kurztrip ist, waren für mich die Vorbereitungen für ‘Die Reise zum Mittelpunkt der Erde’.
Ich hatte zum Glück hilfsbereite Freunde, die mir Reisetipps gaben, diverse Flughafenutensilien ausliehen sowie Gewohnheiten von Land und Leuten nahebrachten. Sie blühten richtig auf, während sie mich liebevoll belehrten. ‘Das erinnert mich total an meine erste Reise allein in die Provence mit 17! Schwelgte eine Freundin. Da hab ich Jerome kennengelernt. Ach, Jerome. Was der wohl heute macht und ob der immer noch dieses umwerfende Lächeln hat… Da brauchte ich jedenfalls kaum Französisch, um mich zu verständigen! Haha… Ach, und kein schlechtes Gewissen, weil du fliegst. Ist doch gut, dass du mal rauskommst aus dem Berliner Muff. Gönn dir!’ kommentierte sie weiter.
Bereits auf dem Flughafengelände eröffnete sich für mich eine neue Welt. Aber ich beschloss souverän damit umzugehen, nicht wie vor ein paar Jahren bei IKEA. Ich war dort mit einer Freundin und sie bat mich, für uns Hotdog zu bestellen, während sie BILLY, ALEX und ÅRSTID ins Auto lud. Zwei Hotdog bitte! Als die Verkäuferin mir das Würstchen im Trocken-Brot hinhielt, schaute ich sie verständnislos an. ‘Äh, können Sie mir das noch belegen?’ fügte ich unsicher hinzu. Die Schlange hinter mir brach lauthals in Gelächter aus. Die Verkäuferin biss sich auf die Lippen und sagte in einem motivierenden Ton ‘Dein erstes Mal?!’ Die Menge hinter mir brüllte erneut auf. Mit einer Handbewegung deutete sie schließlich auf die Selbstbedienungs-Hotdog-Beilagen-Auslage rechts vor der Theke.
Am Flughafen wollte ich derlei aufsehen-erregenden Reaktionen zuvorkommen und outete mich sofort: ‘Entschuldigung, bin neu hier, wo geht’s zum Flughafen?’, ‘Entschuldigung, bin neu hier, wie komm ich durch das Absperrband?’, ‘Entschuldigung, bin neu hier, warum ist der Kaffee so teuer?’, ‘Entschuldigung, bin neu hier, wovor kann der Sitzgurt im Falle eines Flugzeugabsturzes schützen?’
Dass die Realität anders ist als die Imagination wusste ich bereits. Trotzdem überrascht es mich jedes Mal aufs Neue. Das Zimmer war winzig und: ‘Noch nicht fertig’, entschuldigte sich mein Gastgeber. Philippe und seine Frau waren schon länger getrennt, aber erst vor zwei Monaten war sie ausgezogen. Philippe hatte große Renovierungspläne und mich im Zimmer der Möglichkeiten untergebracht, zusammen mit Kartons, Farbeimern und -rollen. Daneben war ein flaches Klappsofa als Schlafplatz aufgestellt für mich. Ich warf meine Sachen ab und stellte mich der Realität.
Ich hatte keine Intention, mein Besuch war unbefangen, oder nicht, oder doch, oder nicht. Ich hatte mich schließlich für: Mein Besuch ist unbefangen, entschieden. Er war spontan und doch geplant. Im letzten Jahr hatte ich Philippe zwei Nächte in meiner Wohnung untergebracht, weil mich ein gemeinsamer Freund darum bat. Wir hatten uns auf Anhieb gut verstanden, so dass ein Besuch bei ihm in Nantes keine fixe Idee blieb.
Französisch brauchte ich nicht, um mich zu verständigen, aber Englisch. Es war schnell klar, dass wir die Wortebene ausreizen würden, nicht wie meine Freundin damals mit Jerome. Tatsächlich redeten wir die meiste Zeit und wenn wir nicht redeten, schwiegen wir. Bis einem wieder etwas einfiel oder die andere entschied, dass jener eingefangene Gedanke geeignet wäre, ausgesprochen zu werden. Es war ein Austausch über die wichtigen Banalitäten des Alltags, über Missverständnisse und Ärger, den man mit anderen Menschen haben kann. Wir sprachen über unsere Lieblingsfilme und über Musik.
Außerdem machten wir lange Ausflüge. Eine Fahrradtour einen Tag nach meiner Ankunft entlang des großen Flusses stadtauswärts. Rechts die Loire, links die frischen, saftigen Wiesen eines Frühsommertages. Das Wasser breitete sich nach dem Regen der letzten Tage nun bis über das Ufer aus. Von unserem Aussichtspunkt, den wir nach gut einer Stunde erreichten, starrten wir eine weitere lange Weile der Strömung hinterher.
An einem anderen Tag fuhren wir mit dem Bus zum Meer nach Pornic etwa 80 Kilometer entfernt. Für 2 Euro 70 wohlgemerkt! Wir ließen die überfüllten Sandstrände schnell hinter uns, und liefen den Weg an einem Steilhang entlang, der nach rechts abfiel. Links bildeten weiße Villen mit hochgewachsenen Pinien ein idyllisches Panorama in der strahlenden Sonne. Wir stiegen hinab zu einem der Riffe und begutachteten das von der Ebbe freigelegte Meeresleben aus Austern, Krabben und Schnecken, schauten zu, wie es nach und nach von den Wellen eingenommen wurde. Später fanden wir einen kleinen Strand und tauchten selbst ein, in den Atlantischen Ozean.
Einen weiteren Tag luden wir Freunde ein. Wir. Ich begann in diesen neuen vier Wänden zu versinken, mit ihnen zu verschmelzen, was sich eingangs fremd und anders anfühlte, wurde plötzlich zu einem Leben, in dem ich mich gut zurechtfand und in dem ich mich irgendwie geborgen fühlte. Ich nahm die Gewohnheiten meines Gastgebers an und imitierte sie. Wie der Kaffee gekocht wurde, wie der Tisch abzuwischen war… Ich sah zu, wie ich mich sinnvoll einbringen konnte und bereitete einen Salat für das ‘Apero’ mit den Freunden vor.
Jeden Tag fühlte ich mich stärker zu Philippe hingezogen. Kann reden geil machen? Was sollte ich damit anfangen? Philippe machte mir keine Avancen, doch die Spannung wuchs. Wir schwiegen immer länger, bis tief in die Nächte hinein, so dass sich meine unausgesprochene Gedankenwelt mit der äußeren Welt zu vermischen drohte und ich fürchtete, dass mein Gedanken-Ich von mir Besitz ergreifen würde, um sich unverhohlen zu nehmen, was es begehrte. Gerade noch rechtzeitig konnte ich mich mit einem ‘Bonne nuit’ aus der Affäre ziehen. Ich wünschte, dass diese Reise bald vorbei sein würde, und gleichzeitig wünschte ich, dass sie nie enden mochte.
Philippe wollte mir unbedingt noch die Stadt zeigen, das war ihm ein Anliegen. Schließlich war hier der Ausgangspunkt von Fantasie und Abenteuerlust, referierte er, als wir am alten Hafen ankamen. Ein gelb gestrichener Kran bildete das Wahrzeichen von Nantes. Ein überdimensionierter Elefant lief über den Platz, wir studierten ihn von der Rampe aus, von der aus, in einem früheren Leben, vermutlich die neu gebauten Schiffe ins Wasser gelassen wurden. Um den Elefanten war ein Pulk von Menschen versammelt, der kreischend davon stob, als dieses Ungetüm aus Holz und Mechanik seinen Rüssel hob und Wasser-Fontänen warf. Etwas mehr links von der Aussicht war ein ebenso überdimensioniertes Karussell zu sehen. ‘Die wollen nur Geld damit machen’, winkte Phillippe ab. Denn nur abgeschirmt von den zahl-losen Gästen, konnten Besucher drinnen viele Unikate von liebevoll gestalteten Holz-Figuren des Karussells sehen. Ganz nebenbei ließ er fallen, dass Jules Verne hier geboren wäre. ‘Das ist kein Zufall!’ – Versuchte ich meinem Gastgeber Glauben zu machen und posierte souverän für ein Erinnerungsfoto vor der Kulisse. Ich wusste längst von der eigentlichen Größe meiner Reise.
Es war mein letzter Tag und die Spannung zwischen uns schien sich wieder zu legen. Philippe sagte, er müsse arbeiten und so setze ich mich, wie so oft in den Tagen davor, ihm gegenüber auf das Sofa und fand im Schreiben zu mir. Das Verlangen wird verblassen, wenn ich erst wieder in Berlin ankommen sein werde, schrieb ich.
Das Verlangen wird verblassen, sagte ich mir, als ich abends darauf am Flughafen auf meinen Rückflug wartete. Fest entschlossen. Ich werde schließlich genug zu tun haben mit der Reise nach der Reise… Was?! Och nö!! Die Anzeige wies eine deutliche Verspätung aus. Ich würde sicher meinen Anschlussflug in Paris nach Berlin verpassen.
One Night in Paris? Willkommen auf meinem nächsten Trip.
Dazu spielt: Im Freibad (aus dem neuen Album ‘Baby, ich nehm dich mit’)
… aber, oder, und… – Schreib mir gern deine Gedanken und Erfahrungen: info@janaberwig.de