Vor meinem Fenster steht ein Ahornbaum. Ich habe nicht sonderlich viel Ahnung von Pflanzen-Bestimmung, aber Ahorn erkenne ich. Das sind die Bäume, deren Blätter je fünf Spitzen haben, die sich auffächern. Jede dieser Spitzen sieht aus wie eine breite Speerspitze. Der Ahorn ist durch das Haus, in dem ich wohne, recht gut vor der Witterung geschützt, gegenüber, auf der anderen Straßenseite, wird er außerdem beschattet von einem weiteren Baum. Deshalb trägt er verhältnismäßig spät im Jahr sein grünes Kleid auf. Momentan, wir haben den letzten Oktobertag, ist er grün-gelblich gefärbt, nur wenige seiner fünfköpfigen Speerspitzen sind bisher gefallen. Dann sind da noch die Nasen: Sie hängen in braunen Bündeln an den Ästen. Ahornnasen kenne ich aus meiner Kindheit. Man puhlt die Stelle am dicken Ende der Nase auf und spreizt sie, setzt sich die so freigewordene Klebestelle auf den eigenen Nasenrücken. Es gibt ein Foto, da bin ich zu sehen gemeinsam mit meinem Vater: Er hat eine dieser Nasen aufgesetzt, grinst mich an. Ich trage ebenso eine Ahornnase, checke es nicht ganz, als etwa Zweijährige, und schaue ich niedlich, aber ahnungslos drein.

Gegenüber von meinem Haus gibt es einen Park und dahinter ein Neubaugebiet. Kein Neubaugebiet aus DDR-Zeiten. Es sind neuere Neubauten, aus den 2000er Jahren, die die Gentrifizierung mit sich brachte. Sie gaben dem Alten Schlachthofgelände eine neue Funktion. Bis auf Lärm in den Bauphasen von diesen und weiteren Bebauungsanstrengungen rundherum, ist es nach wie vor recht ruhig. Es ist eine kleine Straße, in der ich lebe, an der Friedrichshainer Bezirksgrenze. Der Autoverkehr ist überschaubar. Selten dringen laute Geräusche an mich heran. Und falls doch, horche ich auf: Wenn ein Hubschrauber über mein Haus fliegt, wenn von irgendwoher ein lauter Knall hallt oder sich Menschen anschreien von der Straße her, manchmal reden sie auch einfach extrem laut miteinander. Das ein oder andere laute Motorengeheul hat mir schon Ohrenschmerzen beschert. Heute waren es die Laubbläser…

Jedenfalls habe ich das Gefühl von dieser Sicht aus, dass die Welt in Ordnung ist. Damit wäre ich zufrieden und möchte am liebsten meinen Beitrag abschließen. Aber da gibt es ein anderes Fenster, das ebenso von meinem Zimmer aus, einen Blick eröffnet: Das Internet. Die unzähligen Inhalte und Beiträge zeigen und zeichnen oft ein sehr hässliches Bild gesellschaftlicher Verhältnisse, die in der Regel wenig bis gar nichts mit meiner unmittelbaren Lebensrealität zu tun haben. Das ist höchst verwirrend und nur schwer zu verarbeiten. Darauf werden wir nicht vorbereitet, damit müssen wir einfach zurechtkommen.

Ich muss diese Tage oft an mein Lied „Flugzeuge“ denken. Es erzählt eine solche Geschichte der Überforderung und wie wir plötzlich, unvermittelt an Schicksalen teilnehmen, mit denen wir eigentlich keine Berührungspunkte haben. Was mache ich mit meinem Leben hier, wenn an einem anderen Ort großes Unglück geschieht? Auch das erklärt uns niemand. Irgendwie sollen und müssen wir Anteil nehmen. Es wird gefordert, Stellung zu beziehen, aber bitte schön nur die richtige… Aus wessen Sicht? Natürlich sollen ohnehin nur diejenigen reden, die es etwas angeht, die Ahnung haben, die in der Öffentlichkeit stehen.

Doch das Internet gibt allen eine Stimme. Das finde ich an sich gut! Es ist eines der besten Innovationen des globalen Webgeschehens, auch wenn es schwerfällt, einige dieser Stimmen auszuhalten. Letztens habe ich mir mal die Mühe gemacht, durch die Kommentar-Spalten unter diversen Instagram-Posts zu scrollen (Zuletzt war es das Profil der Klima-Bewegung „Letzte Generation“). Und mir fällt auf: Jeder weiß es am besten. Jeder hat recht in der eigenen Position. Das ist ermüdend, weil so keine sinnvolle Diskussion zustande kommen kann.

Überhaupt einen öffentlichen Raum zu haben, in dem sich „Durchschnittsmenschen“ (so nenne ich sie jetzt einfach mal, mich eingeschlossen) äußern dürfen, war lange Zeit undenkbar. Es blieb Führungspersonen und verschiedentlichen Experten vorbehalten. Diese Strukturen brechen Stück für Stück auf. Und dass das denen nicht passt, die vorher alleinige Deutungshoheit hatten, kann ich nachvollziehen. Wir tun immer so, als ob uns die Meinungsvielfalt und die Fähigkeit miteinander zu streiten abhandengekommen wäre. In Wirklichkeit gab es das doch noch nie! Wir sind bisher gar nicht gewohnt, andere Haltungen zu akzeptieren, geschweige denn sind wir bereit, einander wirklich zuzuhören. Das ist ein mühsamer Prozess und hat eher die Geschwindigkeit einer Schnecke als die von 5G.

Wenn ich allein überlege, wie viele Jahre ich brauchte, um Worte anderer nicht als Waffe zu sehen, sondern mich abgrenzen zu können… Außerdem gehört der Wille dazu, den Blick nach innen zu richten, sich zu hinterfragen und an sich zu arbeiten. So kann ich mir zum Beispiel erst jetzt den Spaß erlauben, oben beschriebene Kommentarspalten zu lesen, ohne dem Impuls zu folgen, darauf reagieren, selbst erklären oder irgendwie vermitteln zu wollen. Es bleibt eine Herausforderung, mit der virtuellen Welt zu arbeiten, ohne sie mit dem echten Leben zu verwechseln. Und mindestens zu lernen, nicht alles persönlich zu nehmen.

Dazu spielt: Flugzeuge


… aber, oder, und… – Schreib mir gern deine Gedanken und Erfahrungen: info@janaberwig.de