Es gibt einige deutliche Kindheitserinnerungen, die immer mal wieder vor meinem inneren Auge aufblitzen und mir vorführen, wie ich die geworden bin, die ich bin. Da gibt es zum Beispiel eine Situation, ich war mit meinen Eltern eine befreundete Familie besuchen. Die Tochter war in meinem Alter und wir mochten uns. Bei einem Spaziergang dann habe ich sie geneckt. Wie genau, das habe ich vergessen, vielleicht hatte ich sie an den Haaren geziept oder ihr Sand in die Kapuze gesteckt. Ich habe vergessen, was meine Absicht war, vermutlich gab es keine. Ich erinnere mich, dass ich glücklich war und übermütig wurde. Sie hat sich das ein paar Mal gefallen lassen und dann gesagt, ich solle aufhören. Ich habe nicht verstanden, was daran so schlimm sein soll und habe weitergemacht.

Wenn ich das so aufschreibe, fühlt sich das gerade gemeiner an, als ich es damals empfunden habe. Die Erwachsenen waren dabei, und haben sich rausgehalten. Also gehe ich mal davon aus, dass es alles noch im Rahmen war, spielerisch. Irgendwann hat das Mädchen dann gesagt: Wenn du das noch einmal machst, dann rede ich nicht mehr mit dir. Das kam mir so unrealistisch vor, dass ich weitergemacht habe. Und sie hat aufgehört mit mir zu sprechen. Sie hat das wirklich durchgezogen. Das war richtig hart, ich konnte es nicht fassen. Hatte ihr am nächsten Morgen, vor unserer Abfahrt, noch mit flehentlicher Stimme mein Poesie-Album hingelegt, mit der Bitte hineinzuschreiben und mir zu verzeihen. Aber sie verzog keine Miene.

Für das Erwachsenenwerden spielen viele verschiedene Faktoren eine Rolle und sicher kommen da noch weitere aus meiner Familiengeschichte dazu und der Kindheit in der DDR. Aber es zeigt eigentlich trotzdem ganz gut, was ich daraus mitgenommen habe: Nämlich, Menschen möglichst nicht zu verärgern, weil sie sonst nicht mehr mit mir reden.

Leider hat das auch nur begrenzt funktioniert: Menschen reagieren zum Teil nach wie vor verärgert auf meine Worte, auf mein Verhalten. Weil mich in Wirklichkeit auch andere Menschen mit ihrer Art verletzen können. Lange Zeit habe ich mich gescheut, das zu benennen, eben aus der Angst heraus, verlassen zu werden. Inzwischen sucht sich dieses Gefühl klarer und schneller Ausdruck. Gleichzeitig mache ich mir oft übelst einen Kopf, wie ich Dinge möglichst neutral formuliere, um meine Message gut rüberzubringen. Aber ich muss sagen, an mir ist keine Diplomatin verloren gegangen, so dass sich doch immer wieder ein Satz, ein Wort oder Kommentar einschleicht, der meine Freunde oder Bekannten triggert. Denn natürlich stehe ich nicht neutral ihnen gegenüber, sondern in Beziehung.

Inzwischen weiß ich, dass Ablehnung oder Ärger von anderen nicht unbedingt mit mir zu tun haben muss. Wir haben alle unsere ganz individuelle Geschichte, und in der Regel reden Menschen nicht – vor allem in den alltäglichen Situationen – über ihre Schwachstellen. Dabei würde ich mich freuen, wenn wir es mehr täten. Das wäre eine große Erleichterung! Mit der Angst verlassen zu werden, kann ich inzwischen besser umgehen. Zum Glück ist es ja so, dass nicht nur Menschen (zeitweise) gehen, sondern durchaus auch neue Freundschaften und Beziehungen entstehen und wachsen können. Die Verlust-Angst ist durch Akzeptanz in den Hintergrund getreten.

Heutzutage wird nach außen wieder viel Wert daraufgelegt, sich richtig und korrekt zu verhalten. Erst gestern hat eine Freundin einen Post weitergeleitet, eine Art Gesprächsleitfaden, wie eine non-binäre Person angesprochen werden sollte und was vermieden werden sollte zu sagen. Dabei ist es unmöglich, auszuschließen, einen anderen Menschen zu verletzen. Wir vergessen dabei, dass jeder Mensch einzig- und eigenartig ist, bei aller Ähnlichkeit. Statt einen Fragekatalog abzuarbeiten, sollten wir die Person fragen, wie es ihr geht, wie das für sie ist. Und nicht in die Falle tappen, Fehler vermeiden zu wollen. Dann hätten wir uns nichts mehr zu sagen.

Dazu spielt: Anders


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