Mir fallen immer wieder die Urteile auf, die getroffen werden – von Medienmacherinnen und -macherin, von Menschen, die in den sozialen Netzwerken eifrig posten und kommentieren. Meist pro oder kontra, schwarz oder weiß, parteiergreifend für die eine oder andere Seite. Kürzlich gesehen im Zusammenhang mit dem Urteil zum Johnny-Depp-Prozess. Da gibt es eine Freundin, die mich mit den Details während des Prozesses auf dem Laufenden gehalten hat. Sie ist Team Johnny Depp. Nun sind mir auch andere Stimmen aufgefallen, die sich für Amber Heard aussprechen. Stimmen, die das Gerichts-Urteil verurteilen, auch vor dem Hintergrund, dass sie anderen Frauen, die häuslicher Gewalt zum Opfer gefallen sind, ihre Fälle davon schwimmen sehen.

Insgesamt denke ich, es ist wichtig aus dieser Art Täter-Opfer-Diskussion herauszukommen. Es lenkt ab von wesentlichen Fragen: Wie können Opfer sich mündig machen. Wie können sie ihrer Opfer-Rolle entwachsen und zukünftig keine Opfer mehr sein. Wie werden sie handlungsfähig? Und gleichzeitig schwächt das auch eine Täter-Logik.

Ein Beispiel. Da kam ein Schüler zu mir in den Gesangsunterricht. Der hat mich – salopp gesagt – angemacht. Das war die zweite Stunde und er hat mir einen Spruch von wegen „na, so einer attraktiven Frau lauf ich doch gern hinterher“ gedrückt. Das empfand ich als sehr unangenehm und naja, ich habe erstmal nichts gesagt und es ignoriert. Es hat mich aber anschließend noch beschäftigt, weil ich das nicht in Ordnung fand und ich denke, das gehört nicht in einen solchen Rahmen. Abgesehen davon: Wie soll eine professionelle Vertrauensbasis wachsen, mit jemandem, den ich für übergriffig halte?

Ich hätte mir in den sozialen Medien Luft machen können. Mich darüber aufregen, wie ich unangemessen angemacht wurde in einem beruflichen Kontext. Die Debatte erhitzen, mich als Opfer inszenieren. Aber immer, wenn ich gar zu empört bin, weiß ich eigentlich, dass ich die Person konfrontieren sollte, die es betrifft. Soweit das möglich ist. Und auch bevor ich sofort eine weitere Zusammenarbeit absage.

Nächste Stunde also mit besagtem Schüler. Bock hatte ich auf diese Unterhaltung nicht. Und ich habe Widerstand gespürt: Ich wollte ihm nicht zu nahe treten. Obwohl er mir zu nahe getreten ist… Also, Durchatmen. Ich habe gesagt, dass ich gleich etwas ansprechen muss und es kurz unangenehm wird, um dann an die Situation zu erinnern und ihm zu sagen, dass ich sein Verhalten unangemessen fand und ich das nicht möchte, auch zukünftig nicht.

Der Schüler hat erstmal beschwichtigend reagiert: Er wollte nur das Eis brechen, seine eigene Unsicherheit überspielen. Das mag sein, wiederholte ich, aber das ist kein Weg, um das bei mir zu erreichen. Sondern es vergrößert die Distanz und mein Unbehagen. Das hat er verstanden, im Großen und Ganzen, würde ich sagen oder respektiert das, auch wenn ihm das neu ist.

Vielleicht hätte ich es als Schmeichelei sehen können, fühlte mich aber nicht geschmeichelt. Vielleicht abtun als: Naja, so ist er halt. (Übrigens meiner Erfahrung nach einer der häufigsten Erklärungen fürs Wegschauen). Zum Glück war das mit diesem Schüler eine gute Erfahrung. Wir haben einen guten Draht entwickelt und konnten weiter miteinander arbeiten.

Das Problem was ich sehe, dass viele Menschen es nicht gewohnt sind und einfach auch nicht gelernt haben über sich zu reden, ihre Fragen, Wünsche aber auch Grenzen zu äußern. Das nehme ich immer wieder wahr und inzwischen bin ich bereit, mich dem zu stellen. Denn ich nehme auch wahr, dass es in dieser Zeit mehr Raum gibt für Zwischentöne. Es gibt eine Toleranz, Befindlichkeiten und Unsicherheiten anzusprechen. Aber so richtig machen wir bisher nichts draus. Wir diskutieren lieber in sicherer Entfernung, sind sauer aufeinander, fühlen uns zu recht bestätigt in unseren (Vor)urteilen.

Es ist ein bequemer Weg. Wir müssen uns dann nicht mit dem Gegenüber auseinandersetzen. Es braucht mehr Zeit, mit anderen im Gespräch zu sein, eine andere Meinung hören, Anteil zu haben an einer anderen Erfahrungswelt. Es bedeutet auch Mut zu haben, die eigenen Gedanken auszusprechen und mit der Reaktion des oder der anderen umzugehen.

Es kann wichtig sein, sich in einer solchen Situation Verbündete zu suchen. Und da versagt schon früh unsere gute Erziehung, obwohl das dann besonders wichtig und prägend ist: Kinder, die einen Übergriff erfahren haben, müssen durchschnittlich 6-7 Personen ansprechen bzw. Signale geben, bis ihnen geglaubt wird. Die Bereitschaft zuzuhören, Glauben zu schenken in der Regel mit Widerstand behaftet, wird schnell abgetan. (Das ist mir gerade so präsent aus einer der letzten Podcast-Folgen „Lage der Nation“ Nr. 291, die einen Verein interviewt haben, der an Schulen geht, um Kinder diesbezüglich aufzuklären. Daher die Zahlenangaben.) Es verlangt also auch von der Umgebung eine Sensibilität und die Bereitschaft sich mit einem vermeintlichen Täter auseinanderzusetzen. Gleichermaßen ist es die Möglichkeit einem vermeintlichen Opfer zu helfen, die eigene Stimme zu stärken.

Das war jetzt ein weiter Bogen von der großen Depp-Heard-Show zu den alltäglichen Situationen. Aber alle großen Dilemmata fangen im Kleinen an. Ich denke, es ist wichtig, diese Dynamiken frühzeitig aufzudecken und zu unterbrechen, und uns mündig zu machen.

Dazu spielt: Sail Along


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