„Nie wieder!“ hatte ich mir geschworen. Wirklich! Das Thema war durch, sinnlos, unnütz und ich mit Ü-40 ohnehin nun wirklich absolut zu alt für so einen Quatsch! Ist das nicht peinlich in dem Alter noch nach irgendetwas zu suchen, bestimmte Bedürfnisse zu haben (und diese mit der ganzen Welt zu teilen) oder einfach nur Zerstreuung und Selbstbestätigung haben zu wollen? Sollte ich bekennen, dass ich noch immer, wieder oder je Single war?

Überrascht hat es mich dann trotzdem nicht, als ich mir vor einigen Wochen ein neues Profil auf Tinder erstellte, ganz kurzentschlossen. Merke: Ein menschliches „Nie“ hat eine durchschnittliche Haltbarkeit von etwa zwei bis fünf Jahren. Der Frühling lockte und ich hatte erst vor kurzem zwei Körbe von Männern aus dem echten Leben kassiert. Anscheinend hatte ich es echt nötig. Was scherte mich also ein „Nie“?

Nachdem ich einige Fotos hochgeladen, ein paar Worte zu meiner Person verfasst hatte und zu swipen begann (Heißt: Über das Foto eines potenziellen Flirt-Anwärters zu wischen nach links für: du bist raus, nach rechts für: du bist interessant für mich), fühlte es sich sofort richtig an! Seelenbalsam für die dürstende Selbstbestätigung und diese Aussichten! Wo bekommt frau so schnell eine unfassbar große Auswahl an verfügbaren Männern angezeigt?

Es ist nicht mein erster virtueller Flirt-Anlauf. Ich hatte in den letzten Jahren immer wieder Tinder-Phasen mit ganz unterschiedlichen Werdegängen. In der einen Phase kam es gar nicht zu einem Treffen, in einer weiteren traf ich mich mit Männern, mit denen es überhaupt nicht passte. In einer anderen Phase war es die große Liebe in 9 Kilometer Entfernung. Von meiner letzten Phase ist mir der WhatsAppLover geblieben.

In der aktuellen Phase stelle ich fest, dass es um mich geht. Ich möchte mich neu erleben: Offen und leicht – so wie es mir schon immer nachgesagt wurde! Warum konnte ich diese Eigenschaften an mir bisher nur selten erkennen, wenn es ums Flirten ging? Das ändert sich. Ich merke schnell, wie es mich abtörnt, wenn mir Männer in den Chats ihre ernsten Absichten inklusive Verpflichtungen erklären. Zu lange hatte ich versucht, den Erwartungen anderer zu entsprechen, ohne Erfolg. Zu lange hatte ich mich an vermeintliche Regeln gehalten, nun beginne ich eigene aufzustellen: Ich übernehme keine Verantwortung für die Gefühle meiner Flirts, sondern entscheide nur für mich. Ich sage, was ich zu sagen habe, und verzögere nicht die Kommunikation, nach dem Motto: “Willst du gelten, mach dich selten.” Ich frage, was ich fragen möchte und kommuniziere auch meine Unsicherheiten. Ich möchte mich zeigen, authentisch sein. Früher habe ich oft Dinge nicht ausgesprochen im Kontakt mit Männern, weil ich spürte, dass es nicht gut ankommen würde. Stattdessen blieb ich stumm, was wiederum auch nicht gut ankam und den Kontakt aushöhlte. Also: Keine Rücksichtnahme mehr auf das, was nicht in meiner Hand liegt.

Ich schreibe mit einem Mann, solange ich will. Ich entmatche (Man kann eine Person mit einem Klick entfernen, das gilt für alle Seiten), wenn Männer sexuell übergriffig sind, ohne sie belehren oder es richtig stellen zu wollen, was ich früher noch hier und da versuchte. Ich bin freundlich zu denen, die freundlich mir gegenüber sind, selbst wenn ich schreibe, dass es für mich nicht passt. Mindestens 70 Prozent der getroffenen Verabredungen ins echte Leben werden kurzfristig abgesagt. Kalte Füße sind der häufigste Grund, nehme ich an. Die ein oder andere Begründung wird sicher stimmen. (Ich habe bisher kein Treffen abgsagt.) Dann denke ich: “Zum Glück ist dieser Kelch an mir vorbeigegangen.” Denn es ist schon ein Unterschied, ob ich mit jemandem chatte oder ob ich einem Menschen wirklich begegne. Davor habe ich Respekt und das ist auch gut so. Trauerphasen sind vorhanden, aber recht kurz: Ich finde einen süß und ein paar Tage später… einen anderen. Es ist ein gutes Gefühl mal loszulassen, und mich so zu spüren.

Noch ein paar Informationen zur App: Früher waren es vor allem Fotos und selbst verfasste Text-Beiträge zur eigenen Person. Heute sind da außerdem viele Text-Bausteine zu Hobbies, Interessen und Vorlieben eingerichtet, die ich nur anklicken muss, um sie ins Profil zu integrieren. Tinder gibt sich inzwischen Mühe, einen respektvollen Umgang miteinander zu stärken, mittels Verhaltensrichtlinien, die eingeblendet werden und auch der Möglichkeit, Übergriffe zu melden. (Mag sein, dass es das früher auch schon gab, heute kommt mir das etwas ernst genommener vor). Auch neu: Eine Worterkennung, die sexuelle Begriffe reglementiert: „Diese Nachricht wird deinem Match wohl nicht gefallen, denk nochmal drüber nach, ob du das wirklich sagen willst“ (oder so ähnlich), wird dann eingeblendet. Anfangs stand ich sogar im Verdacht, gegen die Richtlinien zu verstoßen und mir wurde angedroht, mein Profil zu sperren (Ich hatte stehen: “Hat es manchmal faustdick hinter den Ohren.” „Faustdick“ ist wohl ein Begriff, den die Worterkennung sanktioniert.) Auch bei Zahlen springt die Erkennung an: „Bist du sicher, deine Nummer weiterzugeben?“ (oder so ähnlich)

Seit kurzem gibt es eine Schreibmotivation: „Du bist dran“ steht da weiß auf schwarz, wenn ein Match geschrieben hat. Finde ich stressig. Ich entscheide lieber selbständig, wem ich antworte und wann! Ich lerne viel über die neuzeitlichen Beziehungs- und Partnerschaftsformen, beispielsweise: „Konsensuelle Nicht-Monogamie“. Nicht zu verwechseln mit „Polyamorie“.

Weitere sinnvolle Vorschläge zur Verbesserung der App von meiner Seite, Text-Einblendungen wie: „Habt ihr schon über Verhütung gesprochen?“ (Warum wird in Zeiten des Sex-Positivismus immer noch so wenig explizit über Verhütung und Safer Sex kommuniziert??) Und etwas mit mehr Einfühlungsvermögen würde mir gefallen: „Fühlst du dich sicher mit ihm/ihr/ihnen?“ oder einfach nur: “Hast du ein gutes Gedühl dabei?” (Ich muss ja gar nicht Nummern austauschen, um mich zu verabreden.)

Erzähle ich Freunden davon, fragen sie mich, ob ich nicht eine andere App nutzen will. – Wozu? Ich mag Tinder: eindeutig zweideutig. Es ist ein Spiel, jeden Tag ein Level und viel Selbsterfahrung. Ich muss aber auch sagen, es fühlt sich immer wieder anstrengend an: Immer wieder neue Ideen über mich, wie ich sein könnte und mit wem, die Frage, ob ich mich einlassen möchte oder nicht und auf wen… und ich stelle immer wieder fest: Ich mag mein echtes Leben. Da ist bereits alles vorhanden, was ich wirklich brauche.

Wenn jemand einen konkreten Wunsch hat, kann er oder sie sicher Erfüllung mittels dieser App finden, mit etwas Geduld und Zeit. Denn die braucht es schon, egal, ob große Liebe oder kurzweiliges Vergnügen. Ich schaue noch etwas weiter hin, auch wenn es mir momentan schwerer fällt dabei zu bleiben, und lasse mich treiben, in diesen interessanten Sphären.

Zwischenfazit: Kann frau auf jeden Fall machen, ohne sich dafür schämen zu müssen, egal welches Alter, welcher Status. Gerade fühlt es sich an wie ein Befreiungsschlag. Warum dachte ich überhaupt jemals, ich muss mich für mich schämen?? (Beste Erkenntnis ever! Neben: Ich darf öfter „Nie“ sagen.)

Dazu spielt: “Du mir”:


… aber, oder, und… – Schreib mir gern deine Gedanken und Erfahrungen: info@janaberwig.de