Tränenreich. Das Geheimnis des Wassers
Ich habe viele Tränen. Oder: bin nahe am Wasser gebaut, wie es so schön heißt. Ich glaube, das wurde vererbt. Wohl eher von den Frauen der Familie. Für Männer waren Tränen lange Zeit tabu, nur die Mutigsten weinten… Damals. Heutzutage verändert sich das zum Glück, als Teil der aufbrechenden Geschlechteridentitäten. Ich finde es jedenfalls gut, wenn Männer weinen können. Trotzdem und auch für mich als Frau gibt es einige Missverständnisse mit den Tränen. Bei Erwachsenen sind sie in der Regel im Rahmen von Trauer und Verlust vorgesehen und akzeptiert. Babys dürfen weinen, situationsunabhängig. Aber mit zunehmendem Alter gilt es, das mit den Tränen in den Griff zu kriegen.
Seit Heranwachsende jedenfalls, habe ich diese Eigenschaft als Herausforderung wahrgenommen. Nicht so sehr für mich. Sondern für Außenstehende, die das nicht gewohnt sind. Ich weiß noch, wie ich als Jugendliche im Wartesaal eines Krankenhauses saß. Und habe irgendwann angefangen zu weinen und zu schluchzen. Müde des Wartens, unsicher, was gleich passieren würde, ganz allein. Da kam eine Schwester zu mir gerannt und hat mich getröstet. Und ich dachte, was will die von mir?! Es gibt noch viele weitere Beispiele… Tränen erzeugen zunächst einen Impuls helfen zu wollen, mit dem Ziel, sie zu stoppen. Als Referenz zu dem Baby, das so ein bestimmtes Bedürfnis ausdrücken kann, etwas bestimmtes braucht. Ich kann mir vorstellen, dass sich die Bedeutung der Tränen mit der Zeit des Lebens erweitert, weil wir gelernt haben, weitgehend selbständig zu leben und auch, uns verbal auszudrücken.
Im Gespräch mit anderen waren meine Tränen oft Zeichen einer Reibung zwischen Gefühl und Verstand. Ich scheue die Worte zu finden, die mich selbst als unvollkommen zeigen und dann drücken sich diese Dinger einfach raus. Oder ich habe mich ausgedrückt und es ist nicht die Lösung eingetreten, die ich mir erhofft habe. Ich kann lange und ausgiebig weinen. Ich war dann überrascht und verwundert, als meine Gesprächspartnerinnen mir vorschlugen, eine Therapie zu machen. Sicher war das gut gemeint, und mit dem Ziel nach dem Ursprung des Wassers zu suchen, um es versiegen zu lassen… Aber Tränen sind doch Teil des Mensch(lich)seins, des Bewusstseins über die Vergänglichkeit und zeugen von einem starken Kontakt zu den eigenen Gefühlen. Und ich bin sicher, dass das keine Krankheit ist.
Mittlerweile würde ich sagen: ich weine, wenn mich etwas sehr berührt. Sei es die Sorge um einen anderen Menschen, die Sorge um meine eigene Zukunft, auch wenn ich sehr tief empfinde kommen mir Tränen… Und ich kann ganz gut aushalten, dass meine Gesprächspartinnen und Gesprächspartner das ebenso berührt und sie mir helfen wollen. Stattdessen ermutige ich sie, einfach da zu sein, und mir keine Lösungsvorschläge anzubieten. Oder kündige an, dass mich das Thema berührt und ich gleich weinen werde. Ich schäme mich nicht mehr für diese vermeintliche Schwäche, sondern werbe für Verständnis.
Ich mag Tränen. Sie sind Ausdruck einer Authentizität und Echtheit, die wir uns im Laufe des Lebens abtrainieren oder kaschieren wollen. Daher entlastet es mich, wenn andere Weinen. Ich beglückwünsche sie sogar zu ihren Tränen, wie zuletzt eine Bekannte. Das Leben hat sie hart gemacht und sie wirkt in der Regel verbittert und kühl. In letzter Zeit hat sie öfter geweint als wir sprachen. Endlich sucht sich ein Gefühl, dass lange tief vergraben war, einen Weg nach draußen. Da weiß ich, dass Menschen an ihrem Ursprung sind, und mir fällt es gar nicht schwer, das mit ihnen auszuhalten. Sie haben ihre Maske fallengelassen, die ich doch immer nur mühsam deuten und entschlüsseln kann. Ich kann viel besser für sie da sein.
Vielleicht mag ich deshalb Menschen in Extremsituationen. Sie sind nahe an ihren Gefühlen. Sie müssen nichts mehr verstecken, oder können es nicht mehr verstecken. Ich sehe, wer sie wirklich sind, ihre Sorgen und ihre Bedürfnisse. Fühle mich verbunden als Mensch in der menschlichen Natur.
Ich denke, wir sollten nicht so viel werten und urteilen, weniger helfen wollen, sondern es annehmen und Mitgefühl zeigen. Uns von dieser verletzlichen Stärke inspirieren lassen.
Es spielt:
… aber, oder, und… – Schreib mir gern deine Gedanken und Erfahrungen: info@janaberwig.de