Eine Freundin sagt, es komme ihr vor, wie eine Geschichte aus ‘Soweit man von hier aus sehen kann’, dem Buch von Mariana Leky über das Leben, die Liebe, unsere Endlichkeit und die Verbindungen, die wir in der Zwischenzeit zueinander aufbauen. Als ich ihr von Sven erzähle.

Mein Buch, das vielleicht irgendwann einmal aufgeschrieben wird, könnte heißen: ‚Unser Haus‘. Es ist die Geschichte, von Menschen, die zufällig in einem sanierungsbedürftigen Haus in Berlin-Friedrichshain zusammengewürfelt wurden. Damals, als es sanierungsbedürftige Häuser noch in fast jeder Straße Berlins gab. Es spielt in einer Zeit, in der weder unmittelbar saniert noch Bewohner und Bewohnerinnen zahlreich erfolgreich rausgeekelt wurden aus solchen Häusern. So in etwa wird es anfangen.

In dieser Geschichte, die aus vielen Geschichten bestehen wird, die sich im und um das Haus abspielen, wird es auch um Sven gehen. Sven, das ist ein Nachbar aus dem Hinterhaus, den die Erzählerin, die im Vorderhaus lebt und die ebenso Protagonistin in dem Buch ist, ganz süß findet. „Ist aber schwul“, ernüchtert der gesprächige Nachbar Felix, die Schwärmende sogleich. „Aber keine Sorge“, beschwichtigt besagter Nachbar wenig später. Er hätte Sven vorher gefragt, ob er mir diese Information weitersagen dürfe. ‚Toll!‘, denke ich. Und erspare Felix und mir die Erklärung, dass meine Schwärmerei auch eine Information war, die diskret behandelt hätte werden sollen.

Sven besser kennengelernt, habe ich erst Jahre später, als sich die Zeiten änderten und wir enger zusammenrücken mussten. In einigen Runden, in denen wir – alle Hausbewohner – bedröppelt auf dem Innenhof standen und unsere akute Sanierungsangst mit starken Worten auf den Lippen und einem Bier in der Hand bekämpften.

Einige weitere Jahre vergingen zwischen ‚Guten Tag‘ und ‚Ich wünsche dir ein schönes Wochenende‘, bei denen sich die Wege von Sven und mir im Hausflur kreuzten. Erst über die Pflanzen, die plötzlich den rissigen Asphaltboden unseres Innenhofes elegant verdeckten und erblühen ließen, kamen wir richtig ins Gespräch. Das war vor knapp zwei Jahren. Die hatte er nämlich aufgestellt und aufbereitet. Restprodukte oder Aussortiertes von seiner Arbeit bei einer Gartenbaufirma. Er erklärte mir alle Pflanzenarten und deren Blühverhalten genau, von denen ich höchstens die Alltagsnamen erinnere.

Nur, wenn er eine Pflanzenbetreuung finden würde, könnte er es übers Herz bringen, diese Reise zu machen, erwähnte er, bei einem der länger gewordenen Unterhaltungen im letzten Frühjahr. Dass es dabei nicht um die Hofpflanzen ging, ahnte ich. Jeden Tag sehe ich von meinem Fenster aus, das in den Hinterhof schaut, die halsbrecherisch, selbstbewussten Orchideen, die an einer Wäscheleine hängen von einer der höheren Etagen. Ich sehe, wie das grelle Licht aus der Küche von einem Terrarium abstrahlt, in denen – Svens Legende nach – weitere Orchideen, beherbergt werden.

Das Gute ist… Also, manchmal gut, manchmal schlecht, dass ich mir selten konkret Gedanken mache, auf was ich mich einlasse, sondern erst einmal zusage. ‚So ein paar Pflanzen wässern, was soll daran schon schwer sein?‘ dachte ich, als er schließlich mich ins Gespräch brachte, nach einer Betreuung suchend, für einen geplanten Urlaub mit seiner Liebe. Die Geschichte seiner Liebe, wird hier eine Randnotiz bleiben. Im Buch wird das natürlich auserzählt, soweit eine Betrachterin sich anmaßen darf, eine solche Geschichte, überhaupt erzählen zu können. Die Geschichte einer besonderen, schönen… einer großen Liebe, die unbedingt ausgiebig erzählt werden sollte… Also sagte ich einfach: Ja.

Dann hatte ich den Salat: Gefühlt 100 Orchideen zur Pflege. 60 davon täglich zu übersprühen, 40 aller 5 bis 7 Tage zu wässern, einen Monat lang, hatte ich mir da für den Spätsommer aufschwatzen lassen. Da reicht auch nicht mal den Wasserhahn aufzudrehen. Nein, natürlich nur gefiltertes Wasser kann diese Pflanzen beleben, das nur im Mini-Strahl abzufüllen war, vorab.

Jederzeit hätte ich die Möglichkeit gehabt, zu revidieren, das Angebot zurückzuziehen, es mir anders zu überlegen. Aber diesem Menschen einen solchen Wunsch zu erfüllen, der freundlich und engagiert durch die Tage zieht, der noch nie eine so weite Reise – nach Brasilien – für so lange Zeit unternommen hatte, um die Familie seines Ehemannes Jotad zu besuchen, der inzwischen mit ihm zusammen in der kleinen Wohnung lebte… Das kam mir einfach richtig vor.

Dass es dann noch aufwendiger war und mein Ehrgeiz mich dazu bewog, es gut und gründlich zu machen, ist dann selbstverständlich gewesen. Auch die regelmäßigen Nachfragen von Sven während der Zeit seiner Abwesenheit habe ich wohlwollend aufgenommen und beantwortet. Ich habe ihm ja durchaus ein Ohr abgekaut. So einer ist das: Man hat das Gefühl, sich ihm öffnen und ihm vertrauen zu können.

Mir kommen gerade die Tränen. Als Sven gegangen ist… Das wird sicher ein trauriger Tiefpunkt in der Geschichte voller intensiver Momente werden. Natürlich ganz unerwartet geht er, vor vier Wochen. Dafür braucht es kein Drehbuch, das passiert einfach, es kann passieren. Niemand hat damit gerechnet, dass er sterben wird. Wenn man genauer hinschaut, könnte man vielleicht erkennen, dass er im Tun und Machen, hier und da, sich selbst nicht wichtig genug genommen hat, die Zeit für sich und die Erholung zu kurz kam. Aber das sind reine Spekulationen, Erklärungsversuche für etwas, das unerklärlich bleibt. Am Tod kann und sollte man nicht rütteln. Man muss ihn akzeptieren.

Ich bin froh, dass Sven keine Lücke hinterlässt. Er hat uns, denen – die ihn vermissen werden – jemanden, gegeben: Jotad, seinen Mann. Ein ebenso herzlicher und zugewandter Mensch, anders als Sven, aber genauso wunderbar. Darum habe ich noch viel weniger begriffen als Jotad, dass Sven nicht mehr da ist.

Und so bleibt Sven noch, mit einigem, an dem ich teilhaben darf. Das denke ich, als ich mit Jotad vor einigen Tagen in deren gemeinsamer Wohnung sitze und an ihn adressierte Briefe aus dem Kuvert nehme. Ich erinnere mich, wie Sven mich vor der Reise über die Post instruiert hat: „Jana, ich reiße die Briefe immer an der schmalen Seite auf.“ Ein unausgesprochener Wunsch, falls ich einmal einen seiner Briefe öffnen müsste.

Wir vergessen oft, dass der Alltag eine Geschichte ist, die wir in Büchern nacherzählen. Warum lassen wir uns gern auf Geschichten in Büchern oder Filmen ein, aber im Leben tun wir uns schwer mit den intensiven Momenten? Menschen fragen mich immer wieder, warum ich nicht fröhlichere Lieder schreibe. Es sind Lieder, die sich mit der Einzigartigkeit unseres alltäglichen Seins auseinandersetzen, sie haben von allen Gefühlen etwas. Und ich wünsche mir, dass wir all das, was uns das Leben zu bieten hat, jeden Tag willkommen heißen.

Dazu spielt:


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